„Funken“ – Kurzgeschichte

auge schwarz weiß nahaufnahme

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Drei Wochen ist es jetzt her, dass man die Leichen des Ehepaars Peterson fand. Ein Freund der Familie hatte den beiden einen Besuch abstatten wollen und fand stattdessen ein Bild des Grauens. Sein gellender Schrei weckte die Hausbewohner und noch Minuten später hatte er sich nicht beruhigt, brüllte und heulte wie von Sinnen, so dass trotz später Stunde bald das ganze Haus auf den Beinen war. Irgendwann beruhigte er sich und saß regungslos auf der Treppe zur ersten Etage, die Augen starr ins Nichts gerichtet. Die Nachricht verbreitete sich in Windeseile und noch bevor Polizei und Krankenwagen vor Ort waren, hatte sich die gesamte Hausgemeinschaft unten in der Eingangshalle zusammengefunden, um zu tratschen, zu spekulieren und nach Schuldigen zu suchen.

Ms. Eggleston aus der Dritten schwor Stein und Bein, am Abend eine schwarze Gestalt im Hausflur gesehen zu haben. Niemand nahm die Worte der alten Dame ernst. Wie glaubwürdig konnte jemand sein, der seit Urzeiten ohne Mann und Familie lebte? Noch dazu erzählte sie hin und wieder Geschichten über Geräusche in den Wänden und ähnlichen Unsinn. Mr. Michaels, der griesgrämige Kriegsveteran, forderte bewaffnetes Personal zur Bewachung des Gebäudes, worauf hin ein lautstarker Streit über den Sinn und Unsinn von Schusswaffen entbrannte.

Es war also alles wie immer, wenn dergleichen Dinge in der Solomon Street 124 geschahen.

Als die Polizei kam und die Wohnung betrat, herrschte gespannte Stille unter den Zaungästen in der Eingangshalle. Mit angehaltenem Atem lauschte man, was da oben wohl vor sich ging. Man hätte die sprichwörtliche Stecknadel fallen hören können. Als sich der erste Beamte bereits kurz nach Betreten der Wohnung lautstark erbrach, rauschte nacktes Entsetzen wie eine Welle durch die Menge. Getuschel, Bekreuzigungen, das volle Programm. Die versteinerten Gesichter der Polizisten, die professionell gespannte Miene des Gerichtsmediziners und vor allem die absolute Stille während des Abtransports der Leichen verliehen der Situation etwas Gespenstisches. Nicht nur, dass dort oben zwei Menschen zu Tode gekommen waren, der Zustand der Leichen musste besonders grauenerregend gewesen sein.

Als die toten Körper und der noch immer apathisch vor sich hin starrende Besucher abtransportiert waren, kehrte Ruhe ein.
Die Wohnung der Petersons war mit Klebeband und einem Amtssiegel verschlossen worden, nachdem die Spurensicherung ihre Arbeit dort erledigt hatte. Neugierige Hausbewohner schlichen über den Flur der sechsten Etage, als würden sie erwarten, dass die Tür sich wie von Geisterhand öffnen und ihnen einen Blick hinein ermöglichen würde. Natürlich geschah das nicht.

Die Befragung der Hausbewohner begann früh am nächsten Morgen. Systematisch arbeiteten sich die Polizisten von unten nach oben vor, stellten Fragen, machten Notizen, versuchten mitfühlend zu wirken. Gesehen hatte niemand etwas, wenn man von Ms. Eggleston absah, ebenso war keinem der Bewohner etwas Ungewöhnliches aufgefallen. Die Petersons wurden als harmonisches altes Ehepaar beschrieben, die keiner Fliege etwas hätten zuleide tun können. Unvorstellbar, dass der alte Peterson zuerst seine Frau und danach sich selbst auf bestialische Art und Weise umgebracht haben sollte. Nach ein paar Stunden verließen die Beamten das Gebäude, ohne eine Erklärung oder auch nur grundlegende Erkenntnisse zu den Umständen der Tat gefunden zu haben. Die Zeitungen erwähnten den bedauerlichen Todesfall, schwiegen sich aber über Details aus.

Bereits wenige Tage danach hatte die Wohnung der Petersons einen neuen Mieter. Ein Künstler musste er sein, Schriftsteller wahrscheinlich, zumindest dem Anschein nach. Gerüchten zufolge wollte er über die Vorfälle im Haus recherchieren, um einen Roman darüber zu schreiben. Jonah Myers war sein Name.
Die nächsten Tage verliefen ruhig, beinahe hatte man vergessen, dass hier unlängst zwei Menschen ermordet worden waren. Familien riefen ihre Kinder zum Essen, das Pärchen aus der Ersten stritt lautstark, um danach noch lauteren Sex zu haben, der Fahrstuhl war defekt und wurde repariert, einmal fiel für einige Stunden der Strom aus. Es sei ein altes Gebäude, meinte der Hausmeister, da wäre so etwas nicht ungewöhnlich.

Und dann fand man Ms. Eggleston tot in der Waschküche, mit einer Wäscheleine erhängt. Sie hatte sich auf einen der Plastikstühle gestellt, die Wäscheleine an einem Rohr unter der Decke befestigt, sich die Schlinge um den Hals gelegt und war gesprungen. Die junge Mutter aus der Zweiten gab später glaubhaft zu Protokoll, Ms. Eggleston hätte sie aus ihren toten Augen angestarrt, als sie die Waschküche im Keller betrat. Nach Aussage des Gerichtsmediziners konnte ein Fremdverschulden ausgeschlossen werden. Selbstmord also. Nicht ungewöhnlich in diesen Tagen. In der Wohnung der Toten wurde dann deutlich, wie es um den Geisteszustand der alten Frau bestellt gewesen sein musste. Die Tapeten waren von den Wänden gerissen, stattdessen hatte sie alles akkurat mit gelbem Klebeband versiegelt. Böden, Decken, alles. Selbst die Fliesen im Bad hatte sie mit einem Hammer herausgeschlagen. Der Spiegel lag zertrümmert in der Badewanne. In ihrem Tagebuch hatte sie minutiös protokolliert, welche Aktivitäten sie in den Wänden wahrgenommen hatte. Rascheln, Kratzen, Schnaufen, geflüsterte Worte manchmal. Mr. Myers machte Fotos, schrieb hastig Notizen auf seinen Block, stellt dutzende Fragen und war an einfach allem interessiert, was in irgendeiner Weise mit dem Haus und seiner Geschichte zu tun hatte.

Ms. Eggleston war verrückt gewesen, daran bestand kein Zweifel.

Die Geräusche in den Wänden ließen sich schnell auf Ratten zurückführen, die sich in dem jahrzehntealten Gemäuer niedergelassen hatten. Böse Zungen behaupteten, dass einzig die Ratten das Gebäude noch vor dem Einsturz bewahren würden, so löchrig sei das Mauerwerk. Ein Kammerjäger wurde bestellt und lieferte sich einen mehrere Tage andauernden Kampf mit einer Schar Ratten. Mr. Michaels kommentierte die Bemühungen lapidar damit, dass man es entweder mit sehr intelligenten Ratten, oder einem ausgesprochen dummen Kammerjäger zu tun haben musste. Einige hundert tote Ratten später kehrte wieder Ruhe ein im Haus in der Solomon Street 124. Ms. Egglestons Wohnung wurde renoviert und neu vermietet.

Gestern dann brach das Feuer aus. Vom Brandherd im Keller griff es schnell auf die erste Etage über und fraß sich erbarmungslos nach oben. Mitten in der Nacht wurden die glücklicheren Bewohner der Solomon Street 124 von Rauchschwaden geweckt und versuchten panisch das Gebäude zu verlassen, während die weniger Glücklichen in ihren Betten erstickten oder Opfer der gierigen Flammen wurden. Irgendjemand hatte die Feuerleitern sabotiert, den Haupt- und Notausgang versperrt und große Mengen Benzin im Keller und im Hausflur ausgeschüttet. Achtzehn Menschen starben in dieser Nacht.

Als man Stunden später die völlig verkohlte Leiche von Jonah Myers im Keller fand, hielt er noch das Feuerzeug in seinen bis auf die Knochen heruntergebrannten Händen. Der Feuerwehrmann, der die Leiche entdeckte, sagte aus, auf dem Gesicht des Toten hätte ein Lächeln gelegen.

Und nun zu Ihnen.

Vielleicht fragen Sie sich, warum ich Ihnen all das erzähle. Vielleicht fragen Sie sich, was das mit Ihnen zu tun hat. Nichts, werden Sie sagen. Doch das ist eine Lüge. Und das wissen Sie.

Diese Momente des Zögerns, des Zweifelns, der Unsicherheit sind es, die mich anziehen. Jede Notlüge, jedes Verschweigen, jedes stille Aufkeimen eines Konflikts tief in Ihnen, jedes unausgesprochene Wort des Hasses, jede in der Tasche geballte Faust, jede unterdrückte Emotion lassen mich näher kommen. Näher zu Ihnen.

Ich kenne die misstrauischen Blicke, das Getuschel hinter vorgehaltener Hand, die spöttischen Bemerkungen, das abfällige Lachen, das selbstgefällige Grinsen, die neugierigen Blicke durch den Türspion, das Lauschen an den Wänden und das Warten auf irgendetwas, das eine Beschwerde lohnt.

Ich bin es, der Ihnen das Messer in die Hand legt, wenn Sie bereit sind, jemandem die Augen herauszuschneiden und sie roh herunter zu schlingen, nachdem Sie den Kopf Ihres Opfers mit bloßen Händen vom Rumpf gerissen haben. Ich bin es, der Ihnen dann im Spiegel zeigt, zu welcher Kreatur Sie geworden sind. Ich bin es, der Ihnen die Schlinge reicht, wenn Sie erkennen, dass Ihr Leben nur aus Verzweiflung und Einsamkeit besteht. Ich bin es, der den Funken schlägt, wenn Sie Flammen suchen.

Ich bin es, vor dem die Ratten fliehen.

Ich bin das Flüstern in der Nacht. Ich bin das Kratzen in den Wänden.

Eines Tages komme ich auch in Ihr Haus. Und dann werden Sie erkennen, was Ihnen gefehlt hat. Der Anstoß, der letzte Impuls.

Seien Sie ehrlich zu sich selbst. Haben Sie noch nie darüber nachgedacht, jemandem Gewalt anzutun? Haben Sie noch nie in Gedanken jemandem die Kehle zugedrückt, immer fester und fester? Haben Sie noch nie daran gedacht, wie es sein muss, ein Messer in lebendes Fleisch zu stoßen? Das Große aus der Küche, das mit der blitzenden Klinge? Auch wenn Ihr Gewissen Ihnen einzureden versucht, dass das für Sie unvorstellbar sei, auch wenn Sie jeden Gedanken daran vertreiben möchten, so ist es doch zutiefst menschlich. Schämen Sie sich nicht dafür.

Sie sind, wie Sie sind.

Und irgendwann in der Nacht werden Sie meine Stimme hören. Leise zunächst. Doch mit jeder Stunde, jedem Tag, jeder Woche werden meine Worte lauter: Tun Sie es. Tun Sie es.

Klingelt es gerade irgendwo in Ihrem Haus? Klopft ein Fremder an eine Tür? Öffnen Sie kurz, um nachzusehen? Werfen Sie einen schnellen Blick in den Hausflur, weil da irgendein Geräusch war? Ein schmaler Spalt, ein offenes Fenster, ein Riss im Dielenboden – mehr brauche ich nicht.

Kein Klebeband der Welt wird Sie retten vor meinem Flüstern.

Wenn Sie nachts Geräusche in den Wänden hören, denken Sie an mich.

Irgendwann wird das Sie zum Du. Meine Worte werden die eines vertrauten Freundes.

Eines Tages wird meine Stimme zu Deiner.

Und dann ist es mein Gesicht, das uns aus dem Spiegel anschaut.

Träume heute Nacht von Funken, die ein Feuer entfachen.

Tu es.

Tu es.

Tu es!

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